16

 

Sein Kopf dröhnte wie eine Trommel. Das beständige, rhythmische Hämmern klang ihm in den Ohren, so betäubend, dass es ihn nach einem scheinbar endlosen, unruhigen Schlaf allmählich wieder zu Bewusstsein brachte. Sein Körper schmerzte. Lag er irgendwo auf dem Boden? Unter seinem nackten Körper spürte er kaltes Metall, und die Kanten von schweren Frachtkartons bohrten sich ihm immer wieder schmerzhaft in Rücken und Schultern. Eine Plastikplane bedeckte ihn wie eine behelfsmäßige Decke.

Er versuchte den Kopf zu heben, hatte aber kaum die Kraft dazu. Seine Haut fühlte sich erhitzt an, pulsierte vom Kopf bis zu den Füßen. Jeder Zentimeter seines Körpers war erschöpft und angespannt, fieberheiß. Sein Mund war trocken, seine Kehle ausgedörrt und wund.

Er war durstig.

Dieser Durst war alles, woran er denken konnte, der einzige klare Gedanke in seinem hämmernden Schädel. Blut.

 Himmel, er war am Verhungern.

Er konnte den Hunger schmecken - den schwarzen, verzehrenden Wahnsinn - in jedem flachen Atemzug, der durch seine Zähne fuhr. Seine Fangzähne füllten seinen Mund aus. Sein Zahnfleisch pulsierte, wo seine riesigen Fänge standen, als wären sie seit Stunden voll ausgefahren. Einem entfernten, nüchternen Teil seines Verstandes fiel auf, dass diese Schätzung nicht stimmen konnte; die Fangzähne eines Stammesvampirs zeigten sich normalerweise nur in Momenten höchster körperlicher Anspannung - als Reaktion auf Beute, sexuelle Erregung oder reine, tierische Wut.

Die Trommel, die immer noch in seinem Kopf vor sich hinhämmerte, verstärkte das Pulsieren seiner Fangzähne noch. Es war dieses Hämmern, das ihn geweckt hatte. Das Hämmern, das ihn jetzt nicht mehr schlafen ließ.

Etwas stimmte nicht mit ihm, dachte er noch, als er mühsam die brennenden Augen öffnete und die überscharfen, in bernsteinfarbenes Licht getauchten Einzelheiten seiner Umgebung in sich aufnahm.

Kleiner, enger Raum. Lichtlos. Eine Schachtel voll kleinerer Schachteln.

Und eine Frau.

Als sein Blick sie erfasste, verblasste alles andere. Sie lag ihm gegenüber, trug ein langärmliges schwarzes T-Shirt und dunkle Jeans und hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt, Arme und Beine eng an die Wölbung ihres Oberkörpers gepresst. Ihr kinnlanges, tintenschwarzes Haar war ihr größtenteils ins Gesicht gefallen und verbarg ihre Züge. Er kannte sie . . oder spürte, dass er sie kennen sollte. Ein weniger klarer Teil von ihm wusste nur, dass sie warm, gesund und wehrlos war. In der Luft hing ein leiser Hauch von Sandelholz und Regen. Der Duft ihres Blutes, sagte ihm ein vager Instinkt. Er kannte diesen Geruch, und er kannte sie, das wusste er mit einer Gewissheit, die ihm ins Mark eingebrannt schien. Sein trockener Mund war plötzlich nass in Vorfreude auf die Nahrungsaufnahme. Hunger gepaart mit Gelegenheit verlieh ihm eine Kraft, die er vor einem Augenblick noch nicht gehabt hatte. Leise erhob er sich vom Boden in eine tief geduckte Haltung. Er setzte sich auf seine Hacken, legte den Kopf schief und beobachtete die schlafende Frau. Wie ein Raubtier schlich er sich näher heran, bis er über ihr war. Das bernsteinfarbene Glühen seiner Iriskreise badete sie in goldenem Licht, als er seinen hungrigen Blick über ihren Körper streifen ließ.

Und dieses unaufhaltsame Trommeln war hier lauter, die Vibration so klar, dass er es in seinen nackten Fußsohlen spüren konnte. Es hämmerte in seinem Kopf, forcierte seine ganze Aufmerksamkeit. Zog ihn näher zu ihr, dann noch näher.

Es war ihr Puls. Als er so auf sie herunterstarrte, konnte er auf der Seite ihres Halses das weiche Pochen ihres Herzschlages sehen. Regelmäßig, stark.

Die Stelle, in die er seine Fangzähne schlagen wollte.

Ein tiefes Grollen rollte durch die Stille des Raumes. Es war ein Knurren, das aus seiner eigenen Kehle kam.

Die Frau unter ihm regte sich.

Erschrocken schlug sie die Augen auf. Dann weiteten sie sich. „Nikolai."

Zuerst registrierte er den Namen kaum. Der Nebel in seinem Verstand war so dicht, sein Durst so übermächtig, dass er nichts anderes spürte als den Drang nach Nahrung.

Es war mehr als ein Drang es war ein unersättlicher Zwang.

Die sichere Verdammnis.

 Blutgier.

Das Wort driftete durch seinen hungergetrübten Verstand wie ein Phantom. Er hörte es, wusste instinktiv, dass das etwas war, vor dem er Angst haben musste. Aber bevor er seine Bedeutung vollständig erfassen konnte, entzog es sich ihm, verschwand wieder wie ein Geist in den Schatten.

„Nikolai", sagte die Frau wieder. „Wie lange bist du schon wach?"

Ihre Stimme war ihm irgendwie vertraut, gab ihm ein seltsames Gefühl von Trost und Geborgenheit, aber er konnte sie nicht zuordnen. Nichts ergab einen Sinn für ihn.

Alles, was einen Sinn ergab, waren dieses verlockende Pochen ihrer Halsschlagader und der tiefe Hunger, der ihn zwang, die Hand auszustrecken und sich zu nehmen, was er brauchte.

 „Du bist hier sicher", sagte sie zu ihm. „Wir sind auf der Ladefläche des Lieferwagens, den ich aus der Hochsicherheitsklinik habe mitgehen lassen. Ich musste anhalten und mich eine Weile hinlegen, aber jetzt bin ich wieder einigermaßen auf dem Damm. Es wird bald dunkel. Wir sollten weiterfahren, bevor wir noch entdeckt werden."

Als sie sprach, blitzten Bilder in seiner Erinnerung auf.

Die Hochsicherheitsklinik. Schmerzen. Folter. Fragen. Ein Stammesvampir namens Fabien. Ein Mann, den er töten wollte. Und diese tapfere Frau ... sie war auch dort gewesen.

Unglaublich, sie hatte ihm geholfen, zu fliehen.

 Renata.

Ja. Er kannte ihren Namen doch. Er wusste nicht, warum sie gekommen war oder warum sie ihn hatte retten wollen.

ES war auch egal.

Sie war zu spät gekommen.

„Sie haben mich gezwungen", krächzte er, und seine Stimme klang, als gehörte sie gar nicht mehr zu seinem Körper, rau wie Kieselsteine. „Zu viel Blut. Sie haben mich gezwungen, es zu trinken ..."

Sie starrte ihn an. „Was soll das heißen, sie haben dich gezwungen?"

„Haben versucht ... mich zur Überdosis zu zwingen.

Abhängigkeit."

„Blutabhängigkeit?"

Er nickte vage und hustete, Schmerz fuhr ihm durch die Brust. „Zu viel Blut... macht Blutgier. Sie haben mir Fragen gestellt... wollten, dass ich den Orden verrate. Ich habe mich geweigert, also haben sie ... mich bestraft."

„Lex hat gesagt, sie würden dich töten", murmelte sie.

„Nikolai, es tut mir leid."

Sie hob die Hand, als wollte sie ihn berühren.

 „Nicht", knurrte er und packte sie am Handgelenk.

Sie keuchte auf, versuchte, sich zu befreien. Er ließ sie nicht los. Ihre warme Haut versengte ihm Fingerspitzen und Handfläche, überall, wo er sie berührte. Er konnte spüren, wie ihre Knochen und schmalen Muskeln sich bewegten, das Rauschen ihres Blutes, als es durch die Venen ihres Armes schoss.

Es wäre so einfach, sich dieses zarte Handgelenk an den Mund zu pressen.

So verlockend, sie unter sich festzunageln und sich geradewegs in die Verdammnis zu trinken.

Er erkannte den Moment, in dem ihre Überraschung wich und ihre Instinkte Gefahr meldeten. Ihr Puls beschleunigte sich. Ihre Haut spannte sich unter seinem Griff. „Lass mich los, Nikolai."

Er hielt sie weiter fest, das Tier in ihm fragte sich, ob er an ihrem Handgelenk oder ihrem Hals anfangen sollte. In seinem Mund sammelte sich der Speichel, seine Fangzähne brannten darauf, sich in ihr zartes Fleisch zu schlagen. Und er hungerte auch auf eine andere Art nach ihr. Seine Erektion war unübersehbar. Er wusste, dass es die Blutgier war, die ihn trieb, aber das machte ihn nicht weniger gefährlich.

„Loslassen", sagte sie wieder, und als er sie endlich losließ, wich sie nach hinten aus, brachte etwas Distanz zwischen sie. Viel Raum hatte sie nicht. Hinter ihr war ihr der Weg durch Kistenstapel und die Lastwagenwand verbaut. So vorsichtig, wie sie sich bewegte und immer wieder innehielt, spürte das Raubtier in ihm ihre Schwäche.

Hatte sie etwa Schmerzen? Wenn dem so war, war ihren Augen nichts davon anzusehen. Ihr blasses Gesicht schien stählern, als sie ihn trotzig anstarrte.

Er sah nach unten, und seine wilden Augen blieben auf der glänzenden Mündung einer Pistole hängen.

„Tu's", murmelte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich will dir nicht wehtun. Ich brauche deine Hilfe, Nikolai."

 Du kommst zu spät,  dachte er. Sie hatte ihn aus dem Fegefeuer seiner Peiniger geholt, aber er hatte schon einen Vorgeschmack der Hölle abbekommen. Seine einzige Chance bestand darin, die Sucht auszuhungern, ihr zu verweigern, vollständig von ihm Besitz zu ergreifen. Er wusste nicht, ob ER stark genug war, diesen Durst zu bekämpfen.

Jedenfalls nicht, solange Renata in seiner Nähe war.

„Tu's ... bitte. Ich weiß nicht, wie lange ich's noch aushalten kann ..."

„Niko ..."

Das Tier in ihm explodierte. Mit einem Aufbrüllen bleckte er die Fangzähne und sprang sie an.

Sofort ertönte der Schuss, ein betäubender Donnerschlag, der seinem Elend endlich ein Ende machte.

 

Renata ging in die Hocke, die Betäubungspistole immer noch fest in der Hand. Ihr Herz raste, ein Teil ihres Magens schien ihr immer noch im Hals zu sitzen, nachdem Nikolai sie mit riesigen, gebleckten Fangzähnen angesprungen hatte. Nun lag er ausgestreckt auf dem Boden, bis auf seine flachen, angestrengten Atemzüge völlig reglos. Wie er so mit geschlossenen Augen dalag, die Fänge in seinem geschlossenen Mund verborgen, deutete außer seinen wild pulsierenden Hautmustern nichts darauf hin, dass er dieselbe gewalttätige Kreatur war, die ihr eben fast die Kehle zerfetzt hätte. Scheiße.

Was zur Hölle machte sie eigentlich hier? Was zur Hölle hatte sie sich nur gedacht, als sie sich mit einem Vampir verbündet hatte - etwa, dass einem dieser Spezies zu trauen war? Wie tückisch die waren, wie tödlich sie innerhalb von Sekundenbruchteilen werden konnten, wusste sie aus eigener Erfahrung. Er hätte sie eben fast umgebracht. Es hatte einen Augenblick gegeben, als sie wirklich gedacht hatte, dass sie sterben würde.

Aber Nikolai hatte versucht, sie zu warnen. Er wollte ihr nichts tun; sie hatte die Qual in seinen Augen gesehen, in seiner gebrochenen Stimme gehört, in dem Augenblick, bevor er sie angesprungen hatte. Er war  anders als die anderen seiner Art. Er hatte Ehrgefühl, etwas, von dem sie gedacht hatte, dass es unter Stammesvampiren generell nicht existierte, da ihre Erfahrung bisher beschränkt war auf Sergej Jakut, Lex und die, die ihnen dienten.

Nikolai konnte nicht gewusst haben, dass ihre Waffe keine scharfe Munition enthielt, und doch hatte er sie gedrängt, ihn zu erschießen. Hatte sie darum angefleht. Renata hatte in ihrem Leben schon allerhand üble Dinge mitgemacht, aber diese Art von Qualen und Leiden kannte sie nicht. Sie hoffte, dass ihr das auch in Zukunft erspart blieb.

Ihre Schulterwunde brannte höllisch. Sie blutete wieder, nach der Anspannung dieser körperlichen Konfrontation noch heftiger als zuvor. Wenigstens war die Kugel glatt durchgegangen. Das üble Loch, das sie hinterlassen hatte, musste wohl medizinisch behandelt werden, obwohl ein Krankenhaus in nächster Zeit nicht auf ihrer Route lag. Nun hielt sie es auch nicht mehr für angeraten, weiter in Nikolais Nähe zu bleiben, schon gar nicht, wenn sie blutete und das Einzige, was ihn von ihrer Halsschlagader fernhielt, diese kleine Dosis Betäubungsmittel war. Die Betäubungspistole war leer.

Es wurde Abend, sie hatte eine blutende Schusswunde und obendrein noch das große Los gezogen: das anhaltende Echo, den Nachhall ihrer übersinnlichen Waffe. Und wenn sie sich weiter in diesem gestohlenen Lastwagen versteckten, konnten sie sich genauso gut eine riesige Zielscheibe auf den Rücken kleben.

Sie musste das Fahrzeug loswerden. Dann musste sie einen sicheren Ort finden, an dem sie sich so weit zusammenflicken konnte, dass sie weiterkonnte. Nikolai war ein zusätzliches Problem. Sie war noch nicht bereit, ihn aufzugeben, aber in seiner derzeitigen Verfassung war er ihr zu nichts nütze. Wenn es ihm gelingen sollte, die schrecklichen Nachwirkungen seiner Folter abzuschütteln, dann vielleicht. Aber wenn nicht ...? Wenn nicht, dann hatte sie gerade mehr wertvolle Zeit verloren, als sie auch nur zu denken wagte. Mit vorsichtigen Bewegungen kletterte Renata aus dem Anhänger und verriegelte die Türen hinter sich. Die Sonne war untergegangen, und die Dunkelheit kam schnell. In der Ferne glitzerten die Lichter von Montreal.

Irgendwo in dieser Stadt war Mira. Hilflos, allein ... und sie hatte Angst. Renata kletterte in die Fahrerkabine und ließ den Motor an. Sie fuhr zur Stadt zurück, ohne wirklich zu wissen, wohin, bis sie sich irgendwann in vertrauter Umgebung wiederfand. Sie hatte nie gedacht, dass sie einmal hierher zurückkommen würde. Und mit Sicherheit nicht so.

Das alte Innenstadtviertel hatte sich in den zwei Jahren, die sie schon fort war, kaum verändert. Überfüllte Mietshäuser und bescheidene Bungalows aus der Zeit nach dem Zweitem Weltkrieg säumten die Straße, die im abendlichen Zwielicht vor ihr lag. Ein paar Jugendliche, die aus dem kleinen Lebensmittelgeschäft an der Ecke kamen, sahen dem fremden Lastwagen nach, als Renata vorüberfuhr.

Sie erkannte keinen von ihnen und auch keinen von den ausgemergelten Erwachsenen mit dem leeren Blick, die sich auf diesem Stück Asphalt häuslich eingerichtet hatten. Aber Renata suchte hier draußen nicht nach vertrauten Gesichtern. Es gab nur eine Person, von der sie betete, dass sie immer noch hier war. Eine einzige Person, der sie vertrauen konnte, die ihr helfen konnte, ohne groß Fragen zu stellen.

Als sie vor einem niedrigen, gelben Bungalow mit einem Spalier voller rosafarbenen Rosen an der Vorderseite hielt, wurde ihr seltsam eng in der Brust. Jack war noch da; Annas geliebte Rosen, sorgfältig gepflegt und üppig gedeihend, waren Beweis genug. Wie auch das kleine schmiedeeiserne Schild, das Jack selbst gemacht und neben der Eingangstür des fröhlichen Hauses aufgehängt hatte. Bei Anna  stand darauf.

Renata ließ den Lastwagen langsam vor der Haustür am Bordstein ausrollen und stellte den Motor ab, starrte auf das kleine Übergangsheim für obdachlose Jugendliche, zu dem sie so oft gegangen war, ohne es jedoch zu betreten. Drinnen waren die Lichter an und verströmten einen einladenden goldenen Schein. Es musste fast Abendessenszeit sein, denn durch das riesige Panoramafenster auf der Vorderseite konnte sie sehen, dass zwei Teenager - Jacks Klienten, obwohl er es vorzog, sie seine „Kids" zu nennen - gerade den Tisch fürs Abendessen deckten.

„Verdammt", murmelte sie leise, schloss die Augen und lehnte ihre Stirn gegen das Lenkrad.

Das war nicht richtig. Sie sollte nicht hier sein. Nicht jetzt, nach all dieser Zeit. Nicht mit diesen Problemen. Und definitiv nicht mit dem Problem, das sie momentan hinten in ihrem Laster spazierenfuhr.

Nein, sie musste allein damit fertig werden. Den Motor anwerfen, den Lastwagen wenden und ihr Glück auf der Straße versuchen. Hölle noch mal, das war doch schließlich nichts Neues für sie. Aber Nikolai war in schlechter Verfassung, und auch sie war nicht gerade in Bestform. Sie wusste nicht, wie lange sie noch weiterfahren konnte, bevor ..

„'n Abend."

Die freundliche Stimme mit dem unverkennbar texanischen Akzent ertönte direkt neben ihr am offenen Fenster der Fahrerkabine. Sie hatte ihn nicht kommen sehen, aber jetzt konnte sie ihm nicht mehr aus dem Weg gehen. „Kann ich Ihnen helfen mit ... irgendwas ..."

Jacks Stimme verstummte, als Renata den Kopf hob und ihm ihr Gesicht zuwandte. Sein Haar war etwas grauer geworden, als sie es in Erinnerung hatte, sein kurzer, militärischer Bürstenschnitt wirkte schütterer, seine Wangen etwas runder als damals, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber er war immer noch ein freundlicher Bär von einem Mann, über einen Meter achtzig groß und gebaut wie ein Panzer, und das, obwohl er schon fast siebzig war.

Renata hoffte, dass ihr Lächeln besser aussah als die schmerzverzerrte Grimasse, die es war. „Hi, Jack."

Er starrte sie an - mit offenem Mund. „Na, da soll mich doch", sagte er und schüttelte langsam den Kopf. „Ist lange her, Renata. Ich hatte gehofft, du hättest irgendwo ein gutes Leben gefunden ... als du vor ein paar Jahren nicht mehr gekommen bist, habe ich mir Sorgen gemacht, dass vielleicht ..."

Er vermied es, den Gedanken zu Ende zu führen, und schenkte ihr stattdessen sein übliches breites Grinsen.

„Also, verdammt noch mal, ist ja völlig schnurz, über was ich mir Sorgen gemacht habe, denn da bist du ja."

„Ich kann nicht bleiben", stieß sie hervor, und ihre Finger packten den Zündschlüssel, um den Motor anzuwerfen. „Ich hätte nicht herkommen sollen." Jack runzelte die Stirn.

„Zwei Jahre, nachdem ich dich das letzte Mal gesehen habe, tauchst du einfach so aus heiterem Himmel auf, nur um mir zu sagen, dass du nicht bleiben kannst?"

„Tut mir leid", murmelte sie. „Ich muss los."

Er legte die Hände auf das offene Fenster des Lastwagens, als wollte er sie durch bloße Kraft am Wegfahren hindern.

Sie sah auf die gebräunten, wettergegerbten Hände hinunter, die so vielen Jugendlichen aus ihren Schwierigkeiten auf Montreals Straßen geholfen hatten - dieselben Hände, die seinem Heimatland vor über vierzig Jahren im Krieg gedient hatten und die nun dieses Spalier voller pinkfarbener Rosen hegten und pflegten, als wären sie für ihn wertvoller als Gold.

„Was ist los, Renata? Du weißt, dass du mit mir reden kannst, du kannst mir vertrauen. Bist du okay?"

„Klar", sagte sie. „Mir geht's gut, wirklich. Nur auf der Durchreise."

Der Blick in seinen Augen sagte ihr, dass er ihr das keine Sekunde lang abkaufte.

„Jemand anderes in Schwierigkeiten?"

Sie schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf?"

„Weil das früher der einzige Grund war, warum du hergekommen bist. Nie für dich selbst, egal, wie bitter nötig du  es gehabt hättest, dass sich jemand um dich kümmert."

„Das ist was anderes. Das hier ist nichts, wo du mit reingezogen werden solltest." Sie startete den Lastwagen.

„Bitte, Jack ... vergiss einfach, dass du mich heute Nacht hier gesehen hast, okay? Tut mir leid. Ich muss los."

Kaum hatte sie den Schalthebel gepackt, um den Gang einzulegen, legte sich Jacks starke Hand auf ihre Schulter. Es war keine feste Berührung, aber selbst der leiseste Druck auf ihre Wunde brachte sie fast zum Schreien. Sie holte heftig Atem, als der Schmerz sie durchzuckte wie eine Lanze.

„Du bist verletzt", sagte er, und seine drahtigen, grauen Augenbrauen zogen sich abrupt zusammen.

„Es ist nichts."

„Nichts, von wegen." Er öffnete die Tür und stieg auf das Trittbrett, um sie besser zu sehen. Als er das Blut sah, murmelte er einen derben Fluch. „Was ist passiert? Hat man dich mit dem Messer überfallen? Hat irgend so ein Gangmitglied versucht, dir den Laster abzunehmen oder deine Ladung? Konntest du schon die Cops anrufen?

Himmel, das sieht wie eine Schusswunde aus, und das hat sicher schon eine ganze Weile geblutet ..."

„Ich bin okay", beharrte sie. „Es ging nicht um den Laster, und das war überhaupt alles ganz anders, als du denkst."

„Dann kannst du's mir erzählen, während ich dich ins Krankenhaus fahre." Er drängte in die Fahrerkabine und machte ihr ein Zeichen, ihm Platz zu machen. „Rüber mit dir.

Ich fahre."

„Jack." Sie legte die Hand auf seinen mächtigen, ledrigen Unterarm. „Ich kann nicht ins Krankenhaus und auch nicht zur Polizei. Und ich bin nicht allein. Es ist noch jemand hinten drin, und er ist auch in schlechter Verfassung. Ich kann ihn nicht allein lassen."

Er starrte sie an, unsicher geworden. „Hast du was Illegales gemacht, Renata?"

In ihrem schwachen Auflachen schwangen so viele Dinge mit, die sie nicht sagen konnte. Dinge, die er nicht wissen durfte und garantiert auch nicht glauben würde, selbst wenn sie es ihm erzählte. „Wenn es nur die Polizei wäre, die hinter mir her ist. Ich bin in Gefahr, Jack. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich will nicht, dass du da mit reingezogen wirst."

„Du brauchst Hilfe. Das ist alles, was ich wissen muss."

Sein Gesicht war jetzt ernst geworden, und hinter den Falten und dem schütter und grau werdenden Haar erhaschte sie einen Blick auf den unerschütterlichen Marine, der er vor vielen Jahren gewesen war. „Komm rein, und ich finde für dich und deinen Freund einen Ort, wo ihr euch eine Weile ausruhen könnt. Und auch was für deine Schulter. Na los, es ist massig Platz im Haus. Lass mich dir helfen, Renata - lass dir doch ausnahmsweise mal von irgendwem helfen."

Wie gerne hätte sie das getan. Der Wunsch danach hatte sich so tief in ihr Innerstes eingebrannt, dass es schmerzte.

Aber Nikolai an einen öffentlichen Ort zu bringen war viel zu riskant, für ihn und für jeden, der ihn möglicherweise sah. „Hast du noch was anderes außer dem Haus? Wo es ruhig ist, wo weniger Kommen und Gehen herrscht? Es muss nicht groß sein."

„Über der Garage hinter dem Haus gibt es noch eine kleine Einliegerwohnung. Ich habe sie vor allem als Abstellraum genutzt, seit Anna nicht mehr ist, aber du kannst sie gerne haben." Jack sprang aus der Fahrerkabine und hielt ihr seine Hand hin, um ihr herunterzuhelfen.

„Sehen wir zu, dass du und dein Freund ins Haus kommt, damit ich mir diese Wunde ansehen kann."

Renata stieg auf den Asphalt hinunter. Wie sollte sie Nikolai bewegen? Er schlief sicher noch seine durch das Betäubungsmittel verursachte Ohnmacht aus. Umso besser, das würde verhindern, dass Jack sah, was Niko in Wirklichkeit War. Aber nie im Leben konnte sie hoffen, dass Jack den nackten, blutig geschlagenen, bewusstlosen Mann nicht doch etwas ungewöhnlich finden würde. „Mein, äh, mein Freund ist ernsthaft krank. Er ist sehr geschwächt, und ich glaube nicht, dass er alleine gehen kann."

„Ich habe schon mehr als einen Mann auf meinem Rücken aus dem Dschungel geschleppt", sagte Jack. „Meine Schultern sind inzwischen vielleicht etwas krumm, aber sie sind noch breit genug. Ich kümmere mich schon um ihn."

Als sie zusammen nach hinten zur Ladeklappe gingen, fügte Renata hinzu: „Noch was, Jack. Der Laster. Er muss verschwinden. Egal wo, aber je eher desto besser." Er nickte ihr kurz zu. „Ich mach das schon."

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